Kritische Blicke auf die Coronakrise und ihre Folgen
Kritische Blicke auf die Coronakrise und ihre Folgen

Arbeitskräftetransfer

Gruppe break isolation: Vom Versagen des deregulierten Gesundheitswesens: Systematischer Arbeitskräftetransfer nach Deutschland, Folge 1, München 2022.

Seit 25 Jahren findet ein massiver Transfer hochqualifizierter Fachkräfte ganz besonders aus den ärmsten Ländern der EU und Europas nach Deutschland statt; seit 2012 auch zunehmend aus Bürgerkriegsländern wie Syrien. Nach Angaben der Bundesärztekammer (BÄK) waren zum Jahresende 2019 insgesamt 402.119 ÄrztInnen in Deutschland berufstätig, davon der Großteil (207.000) im Klinikbereich. Die Zahl der berufstätigen Ärztinnen und Ärzte mit einem ausländischen Pass ist dabei 2019 erneut um 3.800 auf 58.168 gestiegen. Das bedeutet konkret: Ihre Ausbildung hat der deutschen Gesellschaft keinen Cent gekostet, sie haben sie in einem anderen Land gemacht.
Im Jahr 1995 arbeiteten erst 10.651 ÄrztInnen mit ausländischem Pass in Deutschland, 2007 zwölf Jahre später waren es bereits 16.818 und 2017 mit 45.370 bereits fast dreimal so viel. Eine besonders massive Abwanderung von Fachkräften nach Deutschland war Folge der ökonomischen Krisen wie der globalen Finanzkrise 2008, des fortschreitenden Integrationsprozesses in die EU und der damit einhergehenden massiven Verarmung in osteuropäischen Staaten sowie von Kriegen z.B. ab 2012 in Syrien.
Das von Deutschland in Griechenland 2015 durchgesetzte Spardiktat, das einen massiven Abbau des öffentlichen Gesundheitssystems zur Folge hatte, führte zu einem regelrechten Exodus griechischer Ärzt*innen in Richtung Deutschland. Das Resultat: So arbeiteten nach 4666 Ärzt*innen aus Rumänien im Jahr 2018 bereits 3169 Ärzt*innen aus Griechenland, 2139 aus Polen, 1774 aus Bulgarien, 1243 aus der Slowakei, 1142 aus Tschechien und 1511 aus Italien in Deutschland.
Nachdem das osteuropäische „Angebot“ an medizinischem Fachpersonal bereits durch Personalmessen und spezialisierte Agenturen in den letzten zehn Jahren massiv abgeworben wurde, sind aktuell die baltischen Länder und die Balkanstaaten besonders im Visier des Fachkräftetransfers nach Deutschland (Zahlen von 2018, Anstieg in Prozent seit 2017): aus Albanien 630 (plus 20,9 %), Kroatien 499 (plus 8,7%), Serbien 1128 (8,4%), Bosnien und Herzegowina533 (plus 17,9), 292 (9%), Montenegro 40 (11,1%), Mazedonien 470 (9,8%), Litauen 468 (plus 12%), Lettland 336 (plus 9,4 %) sowie Moldau 149 (8,8%), Ukraine 1637 (10,2%) und Weißrussland 509 (18,4%). Allein aus Syrien stieg die Zahl der Ärzt*innen von 2017 auf 2018 um 14,4 Prozent auf 4156, um 2019 erneut auf 4468 zu wachsen.
So profitiert Deutschland als wirtschaftliche Führungsmacht innerhalb der EU einerseits von dem hierarchisch und völlig ungerecht strukturierten EU-Binnenraum: Da es zwar eine Währung, aber keine gleichen Löhne bzw. einen Lastenausgleich für z.B. die Ausbildung von abgeworbenen Fachkräften gibt, kann es sich der deutsche Staat leisten, dringend notwendige Investitionen in sein Bildungs- und Gesundheitssystem zu unterlassen. Die Ausbildung einer Student*in der Humanmedizin kostet den Steuerzahler an einer deutschen Uni im Jahr durchschnittlich 31.690 Euro. Statt kräftig in die Ausbildung einer ausreichenden Versorgung mit Ärzt*innen zu investieren kann Deutschland stattdessen die besten, jüngsten und mobilsten Arbeitskräfte inkl. kostenloser Ausbildung gratis für seinen Arbeitsmarkt rekrutieren. So findet faktisch ein erheblicher finanzieller Transfer aus den ärmsten Ländern statt. Vor allem aber hat der Fachkräftemangel in den Herkunftsländern gerade jetzt in Zeiten einer globalen Pandemie tödliche Folgen. In Polen und sogar in der Hauptstadt Warschau sind bereits Jahre vor der Pandemie Menschen nachts auf der Straße gestorben, weil das Notarztsystem aufgrund von Personalknappheit nicht mehr flächendeckend funktioniert.
Noch dramatischer sieht die Situation in der Altenpflege aus: Insgesamt arbeiteten 2019 knapp 601.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Deutschland in der Altenpflege. Im Jahr 2019 waren bereits 14 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten Menschen mit einem ausländischen Pass, ihr Anteil stieg seit 2014 in nur fünf Jahren von 8 auf 14 %. Laut Bundesagentur für Arbeit arbeiteten 2019 damit insgesamt knapp 82.000 Pflegekräfte aus dem Ausland in Deutschland. Sechs Jahre zuvor waren es erst 30.000 gewesen. Dabei arbeiteten mehr als die Hälfte der Pflegekräfte als Hilfskräfte, rund 37 Prozent als Fachkräfte, Spezialisten und Experten. Knapp 60 Prozent der in jüngster Zeit zugewanderten 28.000 Arbeitnehmer*innen in der Pflege kommen mittlerweile aus Nicht-EU-Staaten, davon mehr als 10.000 allein aus westlichen Balkanländern. Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft in Köln werden in Deutschland in der stationären Versorgung bis zum Jahr 2035 voraussichtlich rund 307.000 Pflegekräfte fehlen. Deshalb setzt die Bundesregierung und die Betreiber von Pflegeeinrichtungen verstärkt auf den Arbeitskräftetransfer von Pflegepersonal aus dem Ausland.

Pflegekräfte Zuhause nicht mitgerechnet

Die Deutsche Stiftung für Patientenschutz bemängelt dabei zu Recht, dass die veröffentlichten Zahlen die Pflegekräfte aus dem Ausland in der privaten Altenpflege nicht berücksichtigen würden. Bis zu 300.000 Hilfskräfte aus Süd- und Osteuropa seien bisher in keiner offiziellen Statistik erfasst. Doch ohne diese Arbeitskräfte – ebenfalls mehrheitlich Frauen – aus Polen, Bulgarien, Rumänien oder der Ukraine könnte die häusliche Pflege in Deutschland überhaupt nicht mehr aufrechterhalten werden: Ohne diese Kräfte aus dem Ausland wäre die häusliche Pflege sonst bereits zusammengebrochen, mahnte Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung für Patientenschutz. Schließlich lebten mehr als drei Millionen Pflegebedürftige zuhause.

Die explodierende Ungleichheit

Die Pandemie verschärft die ungerechte Weltwirtschaftsordnung, den daraus resultierenden hierarchischen Arbeitskräftetransfer aus den verarmten Peripherien in die Zentren und damit die ausbeuterischen Produktions- und Handelsketten massiv. Wie ein Katalysator. Die Pandemie bringt damit aber auch die Frage der Ungleichheit umso dringlicher zurück auf die Tagesordnung.
Mit welcher Arroganz derzeit deutsche PolitikerInnen, aber auch die Mehrzahl der deutschen Medien über das angeblich so starke deutsche Gesundheitssystem sprechen, ist zynisch, falsch und dumm; zumal dieses Narrativ stets verbunden wird mit einem verächtlichen Verweis auf den desaströsen Zustand der Gesundheitsversorgung in Italien, Rumänien oder Griechenland. Dass die insbesondere von Deutschland in den letzten Jahrzehnten durchgesetzte Deregulierung kommunaler Gesundheits- und Arbeitsstrukturen für den Niedergang vieler Gesundheitssysteme verantwortlich ist, wird verschwiegen. Kam nicht das Spardiktat und die damit einhergehende Zerschlagung kommunaler Strukturen in der Gesundheitsversorgung dieser Länder direkt auf Druck der deutschen Regierung und ihrer Beraterstäbe zustande? Planlos, was einen sinnvollen und nötigen Kampf gegen die Pandemie betreffen würde, setzt die deutsche Politik weiter auf eine kapitalistische Ökonomisierung des Gesundheitssektors. Den Preis dafür, dass in Deutschland das Gesundheits- und Pflegesystem noch nicht kollabiert ist, und dafür, dass man sogar bei der Entwicklung eines Impfstoffes auf Konkurrenz und Profit setzt, müssen die Menschen der ärmsten Länder noch zusätzlich bezahlen.
Das aktuelle Versagen im Kampf gegen die globale Covid-19-Pandemie ist ein Versagen des globalen Kapitalismus: Die Konsequenz muss ein radikaler Bruch sein insbesondere mit der Privatisierung des Gesundheitssektors sowie der kapitalistischen Ökonomisierung von Medizin und Pflege zum Zwecke der Profitmaximierung privater, zunehmend börsennotierter Konzerne. Denn diese Entwicklung bedeutet für die überwiegende Mehrheit der Menschheit eine gesundheitliche und menschliche Katastrophe.