Kritische Blicke auf die Coronakrise und ihre Folgen
Kritische Blicke auf die Coronakrise und ihre Folgen

Giorgio Agamben’s Endzeitvisionen

Karl Heinz Roth: Im Bann des ‚Großen Lockdown‘: Giorgio Agamben‘s Endzeitvisionen, Bremen 2021.

Während des ersten Pandemiejahrs kam es auf dem Feld der politischen Philosophie zu erheblichen Turbulenzen. Dabei erregten vor allem die Stellungnahmen des italienischen Philosophen Giorgio Agamben Aufsehen.[1] Zu Beginn der ersten Pandemiewelle erklärte er unter Verweis auf ein Gutachten des Nationalen Forschungsrats Italiens, bei Covid-19 handle es sich um eine ‚erfundene Epidemie‘, da sich das tatsächliche Geschehen in nichts von der seit langem saisonal auftretenden Influenza unterscheide. Es handle sich somit um eine gezielte Panikmache der Behörden und Medien, die einen umfassenden Ausnahmezustand ansteuerten. Hinter den Beschränkungen der Bewegungsfreiheit und der normalen Lebens- und Arbeitsbedingungen mache sich der alte Traum der Tyrannen von einem verängstigten, gefügigen und uneingeschränkt manipulierbaren Volk bemerkbar.

In den folgenden Monaten erweiterte Agamben in zahlreichen Artikeln und Interviews seine Fundamentalkritik um neue Aspekte. Er stellte eine reziproke Beziehung zwischen den Panik-Konzepten der politischen Entscheidungszentren und einem seit Jahren verstärkten ‚Angstzustand‘ der Individuen her, der von sich aus zu kollektiven Panikreaktionen neige und eine zunehmende Bereitschaft zur Preisgabe aller persönlichen, sozialen und politischen Rechte zugunsten des ‚nackten Überlebens‘ zum Ausdruck bringe. Damit gehe wiederum eine Aufwertung der Medizin zu einem religiösen Kult einher, der vom gesamten Leben Besitz ergriffen habe. Diesen gewandelten Lebenswelten hätten sich die Regierungen nur zu bereitwillig angepasst. Sie hätten die Epidemie-Stürme der vergangenen Jahrzehnte dazu benutzt, um eine Art internationalen ‚Gesundheitsterror‘ zu etablieren. Selbst die Wirtschaft sei von ihnen in das neue Paradigma der ‚Biosicherheit‘ hineingezwungen worden. Zu diesem Zweck werde nun auch die neueste Epidemie instrumentalisiert: Fallzahlen und Sterbeziffern würden aus ihren erklärenden Kontexten gelöst, um Wahrheiten auf ein Moment in der Bewegung des Falschen reduzieren und extremes Regierungshandeln mit einer sich ständig potenzierenden Gesundheitsgefährdung legitimieren zu können. So werde zusätzlich zur Bewegungsfreiheit und zum Versammlungs- und Demonstrationsrecht das Menschenrecht auf wahrheitsgemäße Information beseitigt, um den Ausnahmezustand in einen Normalzustand zu überführen. Damit aber schlage die Stunde der staatsrechtlichen Legitimationsbeschaffer. Es sei kein Zufall, dass jetzt Juristen auf Carl Schmitt, den intellektuellen Wegbereiter des deutschen Faschismus, zurückgriffen, um den Managern des Corona-Notstands bei der Inszenierung des Übergangs in die Diktatur behilflich zu sein. Vordergründig gehe es dabei um das zeitlich befristete Ziel, eine ‚kommissarische Diktatur‘ zum Schutz des verfassungsmäßigen Rechts auf Gesundheit zu errichten. Das aber sei, so Agamben, nur der Anfang. Letzten Endes strebe der außerhalb des Rechts gestellte ‚Souverän‘ danach, den epidemiologischen Notstand zur dauerhaften Unterwerfung der Untertanen zu nutzen und auch im Westen aus der befristeten Normalität des Ausnahmezustands eine neue Ordnung, nämlich eine ‚souveräne Diktatur‘, hervorzubringen.

Im Herbst 2020 hat Agamben seine pessimistischen Befunde zu einer Art Endzeitvision gesteigert. Er schrieb in einem in der Online-Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichten Essay, die Länder, Städte und Häuser seien niedergebrannt, aber die Menschen lebten weiter in ihnen, als stünden sie noch.[2] Sie hätten die Ruinen zugegipst, ihre Augen verbunden und die Gesichter bedeckt, um dies nicht wahrnehmen zu müssen. Zivilisation und Barbarei seien jedoch unwiderruflich untergegangen, um sich nicht mehr zu erheben. Wie aber sollten später Historiker diesen Zusammenbruch beschreiben, wenn die Schiffbrüchigen glaubten, das Wrack zu beherrschen, und wenn die politischen Systeme in Angst und Niedertracht zusammensackten? Wenn alles der technokratischen Diktatur der Kontrollen, Verbote, Experten und Ärzte unterworfen sei, bedürfe es der neuen Horizonte der Verheißungen nicht mehr. Nur noch Panik und Schurkerei sowie deren Personifikationen, die Mönche und Schurken, bestimmten das neu heraufziehende Zeitalter.

Es wäre ein lohnendes Unterfangen, diese Befunde und ihre eschatologischen Weiterungen auf ihre philosophiegeschichtlichen Hintergründe hin auszuleuchten, die bis auf Walter Benjamin zurückreichen[3] und in den Reflexionen Agambens über den ‚homo sacer‘, die Aporien des ‚nackten Überlebens‘ und die Abgründe des ‚Ausnahmezustands‘ gipfeln. [4] Dazu ist hier nicht der Platz, obwohl dies angesichts des Versagens seiner philosophischen Kritiker – der sarkastischen wie der respektvollen – dringend geboten wäre.[5] Ich werde mich im Folgenden auf die kritische Auseinandersetzung mit jenen Argumenten beschränken, die sich unmittelbar auf die Corona-Pandemie beziehen.

Giorgio Agamben vermischt zutreffende Beobachtungen mit falschen Prämissen und übertriebenen Schlussfolgerungen. Niemand wird beispielsweise in Abrede stellen, dass sich in den letzten Jahrzehnten ein vehementer Drang zur kollektiven ‚Biosicherheit‘ entwickelte, der aus einem Angstsyndrom des ‚nackten Überlebens‘ hervorging. Darüber hinaus wird auch niemand bestreiten, dass sich die politischen Regime das Grundbedürfnis nach einem gesunden Leben aneigneten, um die Parlamente zu entmündigen und ihre radikalen Gegenmaßnahmen zur Eindämmung von SARS-CoV-2 mit den Insignien einer allmächtigen ‚Biopolitik‘ auszustatten.[6] Aber folgten die politischen Regime dabei wirklich einem Drehbuch, an dessen Entzifferung der Kulturphilosoph Michel Foucault, Agambens Vorbild, seit Jahrzehnten gearbeitet hatte?[7] Zweifellos haben die politischen Regime seit dem 19. Jahrhundert die Fortschritte der Medizin und der Hygiene immer bipolar genutzt – zur Förderung des Menschenrechts auf Gesundheit und Wohlergehen, aber auch zur Verfeinerung der Kontrolle und Steuerung des Verhaltens der Untertanen. Diese Ambivalenz war dem ‚homo hygienicus‘ seither eingeschrieben.[8] In ihm prallen zivilgesellschaftlicher Fortschritt und obrigkeitsstaatliche Bevormundung ständig aufeinander, und es kam immer darauf an, die emanzipatorischen Ziele der Zivilgesellschaft gegen die Anmaßungen des Obrigkeitsstaats zu behaupten. Insofern versetzte die Corona-Pandemie den sich an den Kulturpessimismus Foucaults anlehnenden Agamben in ein schweres Dilemma. Einerseits waren Agamben die ohne Notstandsdekrete auskommenden Alternativkonzepte des Öffentlichen Gesundheitswesens unbekannt,[9] sodass er sich nicht auf sie berufen konnte. Zum anderen erkannte er die katastrophalen Effekte des autoritären ‚Hammers‘, die er – zu Recht – fürchtet. Es blieb ihm deshalb nichts anderes übrig, als sich auf falsche Prämissen zu berufen, um der auftrumpfenden Exekutivgewalt die Stirn bieten zu können. Deshalb hielt er auch dann noch an der These der Harmlosigkeit der Pandemie fest, als sie angesichts der sich häufenden Erkenntnisse über die Aggressivität des Erregers und die rasante Dynamik seiner Ausbreitung eindeutig widerlegt war. Als genauso überzogen erwies sich die These, die Regierungen nutzten die Pandemie, um den Ausnahmezustand zu verewigen. Dagegen sprach allein schon die Hektik, mit der sie die Entwicklung von Impfstoffen vorantrieben, um aus dem Notstand wieder herauszukommen. Auch für die Tatsache, dass die Akteure des politischen Systems zeitweilig ihre eigene materielle Machtbasis, die Gesamtheit des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses, weitgehend lahmlegten und eine schwere Wirtschafts- und Schuldenkkrise auslösten, verlangt nach anderen Erklärungen statt der von Agamben vertretenen Hypothese einer die Gesellschaftlichkeit zerstörenden absoluten Machtentfaltung ‚schurkischer Souveräne‘.

 

[1] Vgl. zum Folgenden Archiv der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts (SfS-Archiv), Bestand III.79 (Corona-Krise), Forschungsapparat Akteure – Giorgio Agamben. Die Materialien bestehen im Wesentlichen aus Ausdrucken der Online-Rubrik ‚Una voce‘ auf der Webseite des italienischen Verlags Quodlibet, die seit März 2020 die Kommentare und Beiträge Agambens zur Corona-Krise veröffentlicht. Ein Teil der Beiträge ist inzwischen auch in deutscher Übersetzung gedruckt: Giorgio Agamben, An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik, Wien / Berlin 2021.

[2] Vgl. zum Folgenden Giorgio Agamben, Die Zivilisation wird nicht mehr dieselbe gewesen sein: Was es bedeutet, Zeugnis von unserer maskierten Gegenwart abzulegen, in: NZZ Online, 28.10.2020.

[3] Vgl. Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt (1921), Neudruck nach dem Manuskript, in: Ders., Angelus Novus, Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1966, S. 47-66; Ders., Über den Begriff der Geschichte (1939/40), in: Ders., Gesammelte Schriften I.2, Hg. Heinz Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 691- 704, insbes. These VIII, S. 697.

[4] Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: edition suhrkamp 2068, 2002; Ders., Ausnahmezustand (Homo sacer II.1), Frankfurt a.M.: edition suhrkamp 2366, 2004.

[5] Vgl. beispielsweise Maurizio Ferraris, Die Philosophien und die Maske, in: NZZ, 7.11.2020, S. 19; Slavoj Žižek, Pandemie! COVID-19 erschüttert die Welt, Wien: Passagen Verlag 2020, S. 61-63.

[6] Der Begriff ‚Biopolitik‘ geht auf eine von Michel Foucault initiierte Diskussion über ‚Bio-Macht‘ zurück. Er dominierte lange den intellektuellen Diskurs und löste eine weitaus kritischere und präzisere Debatte ab, die seit Ende der 1970er Jahre in der Auseinandersetzung um die Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik am Beispiel der NS-Diktatur geführt wurde.

[7] Vgl. Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-1976), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999 (besonders Vorlesung vom 17.3.1976), S. 276 ff.; Ders., Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesungen am Collège de France 1978/1979, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006.

[8] Vgl. Alfons Labisch, Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit, Frankfurt / New York: Campus Verlag 1992.

[9] Vgl. dazu Karl Heinz Roth, Blinde Passagiere. Die Corona-Krise und die Folgen, München 2022, Kap. V.2, S. 300 ff. (im Druck).