Artikel von Hannes Hofbauer und Andrea Komlosy, 3.4.2020.
Von Hannes Hofbauer und Andrea Komlosy
aus: Telepolis, Erstveröffentlichung am 3.4.2020 auf: https://www.heise.de/tp/features/Post-Corona-4695731.html
Die Krise als Chance. Der Stehsatz aus dem Fundus liberaler Wirtschaftsforschungsinstitute harrt gerade einer zeitadäquaten Formulierung. Noch kämpfen Modellrechner mit zu vielen Unbekannten. Solange die Prognosen zu den Einbußen des BIP-Wachstums im Gefolge des Lockdowns zwischen 2% und 20% liegen, darf man getrost die quantitative Wirtschaftsforschung beiseite lassen; die Geschichte lehrt uns ohnedies, dass volkswirtschaftlich relevante Erkenntnisse daraus nicht gewonnen werden können, geschweige denn gesellschaftlich nützliche.
Also das Ende des Systems? Da packen einen Hoffnung und Angst zugleich, weil niemand weiß, ob sich ein solches in dystopischer Diktatur oder utopischer Demokratie äußern wird. Die weithin vorhandene Blockwartmentalität bei der Kontrolle des Ausnahmezustandes macht zweiteres unwahrscheinlich.
Bevor wir uns dem Spannungsfeld zwischen dem liberalen Postulat der schöpferischen Zerstörung (Joseph Schumpeter) und jenem linken vom Ende des historischen Kapitalismus (Immanuel Wallerstein) widmen, sei kurz das aktuelle Zusammenbruchszenario in Erinnerung gerufen. Es ist für unsere Analyse auch unabdingbar, darauf hinzuweisen, dass dieses weniger dem Corona-Virus als den autoritär verfügten Maßnahmen im Kampf gegen dessen Verbreitung geschuldet ist.
Die Dramatik hat historische Ausmaße. Noch nie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es in unseren politischen Breiten eine staatlich verordnete Schließung des öffentlichen Raumes. Wir erleben eine Zeitenwende. Das gesamte wirtschaftliche System ist in Frage gestellt, es wird in Zukunft nicht mehr so sein wie vor 2020. Die Regeln der Welthandelsorganisation WTO – ausgehebelt. Die Vorgaben von IWF und Weltbank – Makulatur. Die vier Grundpfeiler der Europäischen Union, der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskraft – im Dickicht nationalstaatlich verordneter Maßnahmen zerstoben. Die weltweiten Güterketten – unterbrochen. Handel und Verkehr – lahmgelegt. In Italien und Spanien erzwingen die Regierungen die Schließung von Industriebetrieben. In Österreich rückt das Militär in die Hochregal-Lager der drei großen Lebensmittelhändler ein; bei der Rewe-Tochter Billa hubstaplern Soldaten im Assistenzeinsatz.
Ende des historischen Kapitalismus?
Immanuel Wallerstein hat das kapitalistische Weltsystem seit dem 15. Jahrhundert als eine Abfolge von Expansions- und Kontraktionsphasen beschrieben, wobei Perioden der unipolaren Hegemonie durch eine politische Macht (Genua, Niederlande, Großbritannien, USA) von Perioden abgelöst wurden, in denen mehrere Großmächte um die Vorherrschaft konkurrierten. In Anlehnung an Karl Marx war er davon überzeugt, dass regelmäßige Krisen zur Normalität des Systems der Kapitalakkumulation gehörten: im zyklischen Aufschwung gewährleistete die unabdingbare Expansion in neue Regionen ebenso wie in neue Waren zur Bedürfnisbefriedigung den Unternehmen hohe Profite; diese stießen an Grenzen, weil Konkurrenten erstarkten, die Kosten stiegen und der Absatz stagnierte: kurzum, es setzte Rezession und Krise ein.
Da Wallerstein den globalen Kapitalismus länger als Karl Marx oder Rosa Luxemburg beobachten konnte, entwickelte er aus dem Auftreten von Krisen keine Zusammenbruchtheorie, sondern erkannte die Erneuerungsfähigkeit durch die Krise: Im Anschluss an jede große Krise kam es zu Anpassungen im Leitsektor, in der Arbeitsorganisation, der Technologie und dem Antriebssystem. Eine neue globale Führungsmacht setzte sich durch und die internationale Arbeitsteilung wurde neu aufgestellt. Einen Bruch mit dem „historischen Kapitalismus“ konstatierte der Weltsystemforscher erst in den 1970er Jahren. Der Weltwirtschaftskrise 1973/74 folgte, wie üblich, die hektische Suche nach neuen Leitsektoren, Rationalisierung und internationaler Arbeitsteilung, die die Länder des globalen Südens aufgrund des niedrigeren Lohnniveaus nun auch als Standorte industrieller Massenproduktion ins Spiel brachte. Der Zusammenbruch des realen Sozialismus eröffnete der ins Stocken geratenen Kapitalakkumulation ein weiteres Wachstumsfenster.
Viele BeobachterInnen der Weltwirtschaft sahen damit die nächste Aufschwungsphase gesichert, die erst mit der Weltwirtschaftskrise 2007/08 erneut in die Rezession geriet. Nicht so Wallerstein. Er war der Ansicht, dass es trotz Washington Konsensus und neoliberaler Strukturanpassung weder für die westliche Welt noch für die als Konkurrenten erstarkenden Schwellenländer einen Weg zurück auf den gesicherten Wachstumspfad gab. Warum, legte er erstmals 1998 in seinem Buch „Utopistik“ dar. Die Globalisierung der Güterketten katapultierte in den Schwellenländern immer mehr Menschen aus der Subsistenzwirtschaft in die Lohnarbeit und in die Migration, sodass die Lohnkosten nicht entsprechend sanken. Die sozialen und ökologischen Kosten der Kapitalexpansion erlaubten keine Senkung der Staatsausgaben. Die Staaten hatten als Erfüllungsgehilfen der neoliberalen Austerität das Vertrauen der Bevölkerungen verloren, die Menschen suchten Zuflucht in identitären Konzepten. So beschreibt Wallerstein die explosive Situation zu Beginn des 2. Jahrtausends. Die Zunahme der Aufstände, Bürgerkriege und Militärinterventionen, aber auch die Erosion der Hegemonialmacht USA unterstützen seine These vom Ende des „historischen Kapitalismus“. Nach 500 Jahren zyklischer Erneuerung war das kapitalistische Weltsystem an seine Grenzen gestoßen und nicht mehr in der Lage zu neuem Aufschwung. Es steht an einem Wendepunkt, der als Weichenstellung gedeutet wird, entweder in eine neue autoritäre Herrschaft oder als Auftakt für eine gerechtere postkapitalistische Wirtschafts- und Sozialordnung.
Wir sehen die Inszenierung der Corona-Epidemie als Chance für Kapital und Staatsmacht, im Schulterschluss mit weiten Teilen der Bevölkerung und gesellschaftlichen Institutionen oder über diese hinweg, die vermeintliche historische Endkrise des kapitalistischen Weltsystems zu überwinden und einen staatlich organisierten Kapitalismus zu errichten, wie wir ihn bisher nicht kannten.
Krise als schöpferische Zerstörung?
Wenn es sich im Gefolge des Lockdowns also um keinen Zusammenbruch, sondern um eine Neuaufstellung des Kapitalismus handelt, eignet sich Joseph Schumpeter als spiritus rector. Der Wirtschaftswissenschaftler, der sich nach einem Intermezzo als Finanzminister im Nachkriegskabinett Karl Renner der Republik Österreich 1919 an der Harvard-Universität einen Namen machte, wird von Liberalen aller Couleurs als Erfinder der „schöpferischen Zerstörung“ gepriesen.
Auch Schumpeter sah den Kapitalismus als eine Abfolge von – in Aufschwung, Rezession, Depression und Erholung gegliederte – Zyklen, die nach ihm „Schumpeter-Zyklen“ genannt wurden. Die Rezession erschien darin als Katastrophe für jene Unternehmen, die ihr zum Opfer fielen, bedeutete allerdings gleichzeitig eine Bereinigung der Unternehmenslandschaft von jenen Betrieben, die für die Anpassung an den Aufschwung, der der Depression folgen würde, nicht gewappnet waren. Um zu überleben, war neben Kapitalkraft und Durchhaltevermögen vor allem Innovation notwendig, daher auch der beschönigende Begriff des Schöpferischen, der – wenn die soziale Dimension der Krise, die von Konkurs und bis Arbeitslosigkeit reicht, mitbedacht wird– zynisch wirkt. Trotzdem wäre es falsch, Schumpeters Szenario abzutun, wiesen seine Beobachtungen doch ein hohes Ausmaß an Realitätsgehalt auf. Krisen im Kapitalismus sind ihm ein reinigendes Gewitter, die Konkurrenz eine heilsame Prüfung, und nur wer in der Lage ist, im neuen Aufschwung Produkt und Prozess, Unternehmens- und Arbeitsorganisation neu aufzustellen, kann an diesem partizipieren.
Im Krisenmodus befand sich die Weltwirtschaft bereits seit dem Crash von 2007/08. Zwar erweckte die Wiederkehr des Wachstums in vielen Teilen der Welt, insbesondere in den Schwellenländern des globalen Südens, den Eindruck, die Talsohle sei überwunden. Tatsächlich scheiterte die Strukturanpassung, für die Banken und Konzerne Regierungen in die Pflicht nahmen, an mannigfaltigen Widerständen. Vor allem in den entwickelten Industriestaaten, denen die industrielle Massenproduktion aufgrund der Verlagerungen in Newly Industrializing Countries im globalen Süden zunehmend abhanden kam, ließ sich die Strukturanpassung aufgrund der zögerlichen Haltung von Unternehmerverbänden und Gewerkschaften, die Klein- und Mittelbetriebe bzw. die sozialen Rechte der Lohnabhängigen schützen wollten, nicht ohne weiteres durchsetzen.
Vor diesem Hintergrund erweist sich der Covid 19 Virus als ungeahnte Gelegenheit, ja geradezu als willkommener Anlass, business as usual ebenso wie die selbstverständlich gewordenen Grund- und Freiheitsrechte außer Kraft zu setzen. Das Herunterfahren des öffentlichen Lebens und desallergrößten Teils der Wirtschaft schufen ein bisher ungekanntes Ausmaß an Zerstörung. Im Ausnahmezustand ist es nicht opportun, dies zugegeben, weshalb Liberale, wie etwa der Präsident der Österreichischen Nationalbank Robert Holzmann, der sich in gewohnter Manier der Schumpeter’schen Terminologie befleissigte, als Zyniker abgekanzelt werden. Der Bruch ist gleichwohl viel größer, als Schumpeter es voraussehen hätte können.
„Schöne neue Welt“
Die Praxis der Zerstörung ist gnadenlos. Was das Corona-Virus und die autokratisch verfügten Maßnahmen dagegen gemeinsam haben: die Starken überleben und die Schwachen sterben. Während allerdings der virale Infekt – in Kooperation mit kaputtgesparten Gesundheitssystemen – nur ganz wenige Menschen trifft, die an und mit ihm zugrunde gehen, werden die Folgen flächendeckender Betriebsschließungen und Ausgangssperren viele Unternehmen und Beschäftigte in den Ruin treiben.
Zyklisch wiederkehrende Krisen lösen üblicherweise ökonomische Konzentrationsprozesse aus, umso mehr diese aktuelle Krise, die gerade das gesamte soziale und wirtschaftliche Leben auf Null stellt. Kapitalmäßig schwach aufgestellten Unternehmen, kleinen Werkstätten, von Eigentümern geführten Geschäften fehlt schlicht das Durchhaltevermögen, große Ketten übernehmen dann das Terrain. Dieser Vorgang ist in so manchen Branchen schon lange vor 2020 Wirklichkeit, wie ein Blick auf den Lebensmittel- oder Baumarkthandel zeigt. In der jetzigen Krise beschleunigt sich dieser Prozess allerdings enorm, zumal große Betriebe leichter zu staatlichen Hilfen kommen und schneller ihre Beschäftigten kündigen oder in Kurzarbeit schicken. Wie soll auch der kleine Buchhändler, dessen Geschäft behördlich geschlossen wurde und dem von einem auf den anderen Tag der Umsatz komplett wegbricht, darauf reagieren, woher das Geld für Miete, Gas, Strom und Wasser nehmen und seine zwei Angestellten auf Kurzarbeit ummelden, auch wenn es gar nichts zu arbeiten gibt. Ihm gegenüber steht der Branchenriese Amazon, der bald nach der Schließung des stationären Buchhandels verkündet hat, in nächster Zeit keine Bücher mehr auszuliefern, weil er mit den Bestellungen für tausend andere Produkte und Klopapier nicht mehr nachkommt. Der Buchmarkt wird ihm ohnedies nach zwei, drei Monaten auf dem Tablett serviert. Der Versandhändler Amazon stellte in den vergangenen Tagen weltweit 100.000 neue PackerInnen ein, sein Umsatz schnellte in zehn Tagen um zehn Mrd. Dollar in die Höhe.
Die staatlich herbeigeführte Monopolisierung führt in vielen Branchen zum Ende des von Eigentümern geführten Klein- und Mittelbetriebes. Der Wirt ums Eck war vor Corona, zwei Dutzend Starbucks-ähnliche Restaurantketten werden in Zukunft Vielfalt für den Gaumen simulieren. Die wirklich Reichen müssen dort freilich nicht einkehren, sie kaufen ja auch ihre Schuhe nicht bei einem der drei oder vier Großhändler, sondern lassen sie sich beim Schuster handfertigen.
Post Corona beschert ganzen Sektoren und auch neuen Branchen ungeheuren Aufschwung. Der Siegeszug der Pharmaindustrie war nach dem Knock Out der Tabakindustrie mit weltweit verordneten Rauchverboten nur kurz unterbrochen, nun steht er am Anfang eines nie dagewesenen Höhenflugs. Für sämtliche Bereiche, die mit Medizin zu tun haben, stellt 2020 ein Wendejahr dar. Immerhin wird die Außerkraftsetzung unserer Grundrechte staatlicherseits mit der Volksgesundheit argumentiert. Besser könnte die Akkumulationshilfe für die chemische Industrie und ihre pharmazeutischen Verästelungen nicht sein.
Darüber hinaus dürfte es keine besonders gewagte Prophezeiung sein, wenn man den Einzug der Künstlichen Intelligenz in so gut wie alle Branchen vorhersagt. Wie sich herausgestellt hat, ist der Mensch ein Überträger gefährlicher Viren und die nächste, mutmaßlich viel schlimmere Epidemie kommt bestimmt. Was liegt also näher, als den Faktor Mensch aus dem Wirtschaftsleben zurückzudrängen oder ihn ins Home office zu verdammen. Dort kommt er nicht mit seinesgleichen in physischen Kontakt, auch mögliche Proteste gegen den Konkurrenten KI bleiben viral.
Krisengewinner werden auch all jene Unternehmen sein, die im autoritären Zeitalter besonders gebraucht werden: Ordnungs- und Kontrollhüter jeder menschlichen und technischen Art. Das reicht von sogenannten Sicherheitsfirmen für Objektschutz und Bewegungskontrolle über Software-Produzenten bis zu Drohnenerzeugern und –bedienern im Dienste eines „gesunden,“ störungsfreien Ablaufs des organisierten Kapitalismus. Dazu werden auch neue Berufsgruppen ins Zentrum der Macht vorrücken, die seit Wochen Notfallpläne und Notverordnungen, Ausgangssperren und Repressionsapparate ausarbeiten: medizinische Technokraten in weißen Kitteln, Psychologen, Militärs.
Die neue Arbeitsform ist die Vereinzelung. Eine solche gibt es freilich schon länger in post-industriellen Produktionsprozessen, nun beschleunigt sich diese Tendenz. Hilfreich dabei könnte der gesamte Kontrollapparat sein, der in diesen Wochen und Monaten Bewegungsprofile und Gesundheitsindikatoren jedes einzelnen aufzeichnet. Sein Ausbau zu einem vielversprechenden Zukunftssektor scheint unausweichlich. Als Legitimation für seinen Fortbestand kann nach dem Ende der Corona-Krise z.B. eine drohende ökologische Katastrophe in die Bresche springen. Ein grün angehauchter autoritärer Staat stößt kurzfristig auf weniger Widerstand. Und das Mäntelchen eines Green New Deal kann Billionen an Staatshilfen für entsprechende Konzerne leichter verdecken.
Staatlich organisierter Kapitalismus
Der Staat, der aus neoklassischer liberaler Perspektive durch seine Eingriffe überhaupt erst die Probleme erzeugt, die er zu lösen vorgibt, wird durch die medizinische (Selbst-)Legitimierung plötzlich zum Hauptakteur. Der konstruierte Antagonismus von freier Konkurrenz und staatlichem Dirigismus hält der tatsächlichen Entwicklung des historischen Kapitalismus selbstverständlich keineswegs stand: ohne staatliche Vorleistungen wären Unternehmen gar nicht in der Lage, ihre private Tätigkeit zu entfalten. Sie verlangen von den Staaten nationale und internationale Absprachen zur Sicherung von Handel und Kapitalverkehr und nehmen sich gleichzeitig die Freiheit, Unterschiede in den regionalen und nationalen Kapitalverwertungsbedingungen für sich auszunutzen. Normalerweise sind es die stärksten Kapitalgruppen, die die Regierungen und internationalen Organisationen für ihre Interessen einspannen.
Man könnte meinen, die Welt steht derzeit Kopf, wenn wir den Dirigismus beobachten, der im volksgesundheitlich legitimierten Ausnahmezustand herrscht. Die Erwerbsfreiheit ist in weiten Teilen außer Kraft gesetzt. Vorhandene und zukünftige Steuermittel werden ohne jede Ausgabenbremse in das Virus-Management und die Kontrolle der Durchsetzungsmaßnahmen gepumpt. Für Unternehmen und zu KurzarbeiterInnen deklarierte Arbeitslose gibt es Rettungspakete und weitreichende Versprechungen auf Kompensation der Krisenfolgen. Darüber hinaus steigen die Kosten für Kündigungen, Sozialhilfe und die Reparatur all dessen, was sich durch Schulschließung, Wohnungskasernierung und soziale Isolation zusammenbraut. Ein verordneter Schuldenstaat ist unvermeidlich. Die Bundesrepublik Deutschland hat Ende März 2020 den Wirtschaftsstabilisierungfonds mit 600 Mrd. Euro plus weitere 150 Mrd. Euro an Hilfsgeldern und Überbrückungskrediten für krisengeschüttelte Unternehmen geöffnet, Österreich schnürte ein Packet von 42 Mrd. Euro, die USA 2000 Mrd. Dollar. Auch die Europäische Zentralbank macht unter dem Titel „Pandemic Emergency Purchase Programme“ 750 Mrd. Euro locker, um Staatsanleihen von Mitgliedsstaaten aufzukaufen, sogenannte Corona-Bonds sind in Vorbereitung.
All dies könnte – fälschlicherweise – als Nachfragestimulierung im Keynes’schen Sinne interpretiert werden. Vielmehr muss die Ausgabefreudigkeit der Staaten jedoch als Ausdruck eines geopolitischen Konflikts um Führungskompetenz in der Weltwirtschaft betrachtet werden.
Zum Vergleich drängt sich die Depression im Anschluss an die große Weltwirtschaftskrise 1873 auf. Diese hat im Deutschen Reich, in der Habsburgermonarchie und in Russland, deren Industrialisierung gegenüber den westeuropäischen Staaten zurücklag, zu einem gewaltigen Stimuluspaket in Berlin, Wien und Sankt Petersburg zur Förderung der Industrie geführt. Der so genannte organisierte Kapitalismus mobilisierte das Auslandskapital zur Stärkung der Banken, die die Schwäche des Bürgertums durch Industriefinanzierung und Industriebeteiligung kompensierten. Über Fusionen und Übernahmen entstanden in den wichtigen Branchen große Kartelle, denen die kleinteilige, im Konkurrenzkapitalismus verhaftete Unternehmenslandschaft zum Opfer fiel. Der solcherart bewerkstelligte Aufschwung, der auf Kosten sozialer und regionaler Entwicklungsziele erzielt wurde, fand seine Fortsetzung in der Kriegswirtschaft des Ersten Weltkriegs.
Auch heute wird die Überführung der – auf Erwerbsfreiheit und Wettbewerb beruhenden – Marktwirtschaft in eine neue Kommandowirtschaft im Zusammenspiel zwischen Banken und den großen Playern der zukünftigen Leitsektoren organisiert. Der große Gegenspieler der europäischen Staaten und der USA ist dabei China, das in den vergangenen 30 Jahren mit der Losung „Öffnung und Reform“ vorgezeigt hat, wie staatlich administrierter Kapitalismus nachholende Entwicklung in Gang und damit den Westen unter Anpassungsdruck setzen kann. Nicht nur im Meistern der Corona-Krise, auch im Meistern des organisierten Kapitalismus gibt China die Strategie vor, die der kapitalistischen Weltwirtschaft einen neuen Zyklus bescheren könnte. Und das ist keine Frohbotschaft.
Die Frage steht im Raum: Wer zahlt die Zeche? Woher werden die versprochenen und ausbezahlten, tatsächlich nicht vorhandenen Milliarden-Beiträge kommen? Wie werden sie anschließend wieder eingetrieben? Dass Krisenkosten über Massensteuern oder Hyperinflation der Allgemeinheit aufgebürdet werden, während zukunftsträchtige Branchen über Förderungen und Anreize die öffentlichen Mittel für sich nutzen können, ist absehbar. Die Wiederherstellung globaler Güterketten sollte auch erlauben, einen Teil der Kosten auf andere Weltregionen abzuschieben. Doch das nie dagewesene komplette Herunterfahren der Wirtschaft könnte auch in den westlichen Zentren drastischere Maßnahmenwie Währungstausch und Sparguthabenabschöpfung erfordern – Maßnahmen, die im Zuge der Wirtschaftskrise 2008 bereits in Zypern erprobt wurden. Theoretisch könnte man dabei auch vorrangig die Reichen zur Kasse bitten, praktisch würde dies jedoch einen Umsturz erfordern. Wer sollte vor dem Hintergrund eines nationalen Schulterschlusses eine solche Umverteilung durchsetzen?
Umverteilung
Im Ausnahmezustand sprießen Utopien. An jedem Supermarkt-Eingang wird den HeldInnen der Krise gedankt. Putzfrauen und Kassiererinnen, durchwegs weiblich, werden plötzlich mit medialer Anerkennung bedacht. Warum sollte das nach dem Ende der Krise nicht so bleiben? Energie- und Umweltbilanz 2020 werden mustergültig ausfallen, die deutlich bessere Luftqualität (z.B. in der Lombardei) ist schon jetzt auf Satellitenaufnahmen zu beobachten. Warum sollte man die Klimakrise nicht mit ähnlich autoritären Maßnahmen in den Griff bekommen? Die Menschen überleben ohne Konsumterror, ohne Urlaubsflüge und – die älteren unter uns – sogar ohne Kreuzfahrten. Warum sollten wir ab 2021 wieder zum Konsumieren von sinnlosem Zeug zurückkehren?
All diese – je nach Weltbild – utopischen bzw. dystopischen Zukunftsvorstellungen tauchen in vielen Kommentaren meinungsbildender Medien auf. Selbst- und Gesellschaftskritik ist in diesen Tagen en vogue. „Wir müssen zurückschalten“, lautet die Devise.
Tatsächlich sind wir 2020 an einem Punkt angelangt, den wir weiter oben mit der Wallerstein’schen Vision vom „Ende des historischen Kapitalismus“ beschrieben haben. Eine emanzipatorische Wende ist denkbar; auch, dass eine solche im Widerstand gegen den herrschenden Ausnahmezustand entsteht, ja sich eruptiv-revolutionär einen Durchbruch verschafft. Von oben wird sie nicht kommen, das steht fest. Dort arbeitet man zügig an der Organisation eines post-historischen Kapitalismus; und dies Hand in Hand mit den großen Kapitalgruppen, führenden Branchen und Entwicklern neuer Arbeitsmethoden. Zur Ruhigstellung der zum Ausstieg Bereiten und der langfristig „Unbrauchbaren“ sollte die Einführung eines Grundeinkommens reichen, bei der Herstellung eines entsprechenden Konsenses von Politik und Nichtregierungsorganisationen dazu könnten die Grünen ihren Platz in der politischen Mitte festigen.
Der neue organisierte Kapitalismus scheint die Zügel fest in der Hand zu halten. Doch gerade dort liegt seine Schwachstelle. Er neigt dazu, die Zügel zu straff zu halten. Die regelmäßig stattfindende Überdehnung des Repressionsapparates fordert, wie zuletzt bei den Gelbwesten in Frankreich, Widerstand heraus. Denn eines gilt es festzuhalten: Die Aufrechterhaltung eines Systems qua Repression ist ein Zeichen seiner Schwäche.
Die AutorInnen:
Hannes Hofbauer, geboren 1955 in Wien. Er arbeitet als Verleger und Publizist. Von ihm erschien zum Thema: „Die Diktator des Kapitals. Souveränitätsverlust im postdemokratischen Zeitalter“.
Andrea Komlosy, geboren 1957 in Wien, ist Professorin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Von ihr erschien zum Thema: „Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert“.